Wörwag ist Anders

Wörwag ist Anders

An Bettina Anders müssen alle vorbei. Die 52-Jährige ist Assistentin der Wörwag-Geschäftsführer Georg Saint-Denis und Dr. Achim Gast. Sie ist die liebenswerte Torwächterin
im Vorzimmer der Macht. Vor allem aber: ein Multitalent. Denn Anders vereint in sich noch mehr Jobs.

Zu Bettina Anders’ Schreibtisch gehört eine Schublade, die bei allen besonders beliebt ist. Im Rollcontainer lagern Schokoriegel, Kekse, Brillenputztücher und Bonbons gegen „Männerhusten“. Ihre Chefs können sich auf sie verlassen. Nicht nur, wenn die Stimme kratzt.

2001 holte der damalige Geschäftsführer Jochen Schwemmle Anders in sein Team. Sie könnte jede Menge Insiderwissen liefern – über Gespräche, Strategien, Pläne, Entwicklungen. Sie könnte. Doch der Konjunktiv bleibt bei der gelernten Wirtschaftskorrespondentin eine bloße Möglichkeitsform, deren Bestätigung sie mit traumwandlerischer Sicherheit vermeidet.

Sie hat Zugriff auf die Korrespondenz der Geschäftsführer, protokolliert wichtige Sitzungen, weiß, wann wichtige Entscheidungen anstehen, und ist bei strategischen Themen stets auf dem aktuellen Stand. Sie könnte viel erzählen. Doch sie schweigt. Und lächelt so, dass man ihr das Schweigen nicht übelnimmt.

„Wenn mich Kollegen nach meiner Meinung fragen, gebe ich allerdings eine ehrliche Antwort. Wem das nicht gefällt, der muss mich ja nicht fragen“, betont sie, wohl wissend, dass ihre Einschätzung gehört wird. „Frau Anders ist für mich eine loyale Vertrauensperson“, lobt Geschäftsführer Dr. Achim Gast. „Was in meinem Büro bleiben muss, bleibt dort. Um ein solches Zutrauen zu entwickeln, muss die Chemie stimmen.“

Bettina Anders, liebenswerte Torwächterin im Vorzimmer der Macht.

„Frau Anders ist für mich eine loyale Vertrauensperson“, lobt Geschäftsführer Dr. Achim Gast. „Was in meinem Büro bleiben muss, bleibt dort. Um ein solches Zutrauen zu entwickeln, muss die Chemie stimmen.“

Anders ist auch Gedankenleserin. Wissen, welche Unterlagen die Geschäftsführer auf einer Sitzung brauchen könnten, und solche Akten griffbereit in der Tasche zu haben, kann man kaum lernen. Da hilft nur Erfahrung. Und Gespür für den richtigen Moment. Ein heikles Thema anzusprechen oder auf eine Entscheidung zu drängen, erfordert zudem psychologische Kompetenz. Die braucht Anders auch in ihrer Rolle als Ansprechpartnerin für alle, die am liebsten direkt ins Chefzimmer stürmen würden.

Mit ihrer ruhigen Art kühlt sie erhitzte Gemüter auf Normaltemperatur. Auch am Telefon. „Ich bin fest davon überzeugt, dass wenn man beim Telefonieren lächelt, sich der Tonfall ändert. Ruhe bewahren. Dann kann man die meisten Anfragen an die Fachabteilung oder an Kollegen weiterleiten. Nicht alles muss gleich zum Chef“, verrät sie das Geheimnis ihrer Diplomatie.

Ausgestattet mit politischem Geschick, ist Anders oft mit Spezialaufträgen im Haus unterwegs.

Wer so lange in einem Unternehmen ist, verfügt über Kontakte in alle Abteilungen und über Hierarchieebenen hinweg: Wörwag ist Anders. „Ich bekomme sehr viel mit. Manchmal fallen mir dabei ganz andere Dinge auf als den Chefs“, berichtet sie.

Sie weiß, wie wichtig solche Informationen im Tagesgeschäft sein können. Routine und der gesunde Menschenverstand helfen ihr, die zahlreichen Fettnäpfchen zu umgehen, die ihr der Betriebsalltag dabei in den Weg stellt.

Anders ist Artistin. Zumindest kommt sie sich zuweilen wie die Attraktion in der Manege vor. Termine koordinieren, die Zeit einteilen, Prioritäten setzen und dabei immer gut gelaunt sein. „Ich denke, ich habe mein Ressort im Griff.

Die Kunst liegt darin, viele Bälle gleichzeitig in der Luft zu halten“, sagt sie. Gegen das Stereotyp einer Sekretärin verwahrt sie sich: „Kaffeekochen, Fingernägel lackieren, auf hohen Hacken durch die Gänge stöckeln – solche Klischees ärgern mich maßlos.“ Mindestens drei von vier Sekretärinnen weichen von diesem Bild ab. Kaffee kocht sie trotzdem gerne für alle.

Anders besitzt sensible Antennen und bemerkt dadurch sehr genau, was die Chefs beschäftigt.

„Wenn man so eng zusammenarbeitet, lernt man sich ziemlich genau kennen.“ Die Stimmung ist ausgeglichen, angenehm, nimmt man sich nicht immer so ernst, außer die Dinge müssen ernst genommen werden. „Ich habe noch nie erlebt, dass Dr. Gast laut wurde. Selbst wenn ihn ein Vorfall im Unternehmen ärgert, reagiert er nicht emotional. Wie auch immer ihm das gelingt.“ Besonders über ehrliche Wertschätzung freut sie sich. „Der Chef lobt. Manchmal kommt es genau darauf an.“

Anders koordiniert Projekte. Als Vertriebsassistentin betreut sie auch die Vertriebsleitung Automotive sowie die Key-Account-Manager. Zu ihren Aufgaben gehören überdies das Erstellen der Umsatzberichte und Präsentationen. Sie organisiert das hohe Reiseaufkommen, das die Internationalisierung Wörwags mit sich bringt.

Als Hüterin der Firmen-Kreditkarte bucht Anders direkt oder indirekt fast alle Flüge und Hotels für die Kollegen. Dass sie einmal einen Mietwagen in Birmingham im US-Bundesstaat Alabama statt in England reservieren ließ, zählt zu den Anekdoten, über die sie heute herzhaft lachen kann.

Anders ist Teil der Wörwag-Geschichte. Seit 22 Jahren bildet das Unternehmen in ihrem Leben einen Fixpunkt. Sie ist ein Glückskind. Das Vorstellungsgespräch hätte die Kandidatin aus Tübingen um ein Haar verpasst. Die S-Bahn streikte, Anders wollte schon umdrehen, kam zu spät, hinterließ aber beim damaligen Vertriebsleiter Kurt Braun einen bleibenden Eindruck. „Ich hätte nie gedacht, dass sie mich nehmen“, erinnert sie sich.

Anders hat Sprachtalent. Englisch und Französisch spricht sie fließend.

Die Liebe zum Nachbarland zeigt sich auch in ihren Urlauben. Dieses Jahr zieht es sie in die Ocker-Steinbrüche der Provence. Und immer wieder lockt Italien. Dolce Vita. Letztes Jahr war sie nach langer Zeit mal wieder in Venedig. Von den kitschigen Sonnenuntergängen schwärmt sie heute noch.

Italienisch spricht sie allerdings nicht so gut, wie sie möchte: „Das ist noch ein Projekt. Ich habe mal einen Kurs angefangen, aber der passte nicht zu meiner Arbeitszeit.“ Warum sie Italien so liebt? „Die wissen, wie man fünf gerade sein lässt. Ich stelle immer wieder fest, dass ich das schlecht kann.“ Selbst den Urlaub plant sie bis ins letzte Detail. Und für alle Fälle hat sie noch Plan B parat. „Das nervt mich manchmal selbst“, lacht sie. „Aber so bin ich eben.“

Anders liebt die Gemälde Gerhard Richters, gönnt sich ein Abo für das Kleine Haus am Stuttgarter Staatstheater. Sie genießt Lesungen im Literaturhaus Stuttgart und malt am liebsten in ihrer Lieblingsfarbe Lila, „ich habe alle Restbestände der Pelikanfarbe 115 gekauft, die wird nämlich nicht mehr hergestellt“.

Allein die knappe Freizeit setzt der Vielfalt ihrer Interessen Grenzen. Als Ausgleich für das Sitzen im Büro geht sie zudem regelmäßig ins Fitnessstudio. „Den Rücken stärken, damit andere sich anlehnen können“, analysiert sie mit dem ihr eigenen trockenen Humor.

Genau so meint sie es. Wörwag ist eben Anders.

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Das Ende des Postkorbs

Auch bei Wörwag wird der klassische Postweg immer seltener beschritten. „Ich gebe den Körben nicht mehr viel Zeit“, sagt Bettina Anders. Noch stehen solche Ablagekästen zur internen Verteilung der Post in ihrem Büro.

Dasselbe gilt für das kaum noch gebrauchte Faxgerät. Die letzte Schreibmaschine im Haus – ein Fall für das Museum. Heute läuft fast der gesamte Schriftverkehr per E-Mail. Im Schnitt sendet Anders fünfzig Nachrichten am Tag.

Vortragsunterlagen werden nicht mehr gedruckt und gebunden, sondern nur noch am Bildschirm gelesen. Moderne Zeiten, schnelle Zeiten. Anders gefällt es. Nur eines wünscht sie sich: „Dass in der schriftlichen Kommunikation ein bisschen auf Rechtschreibung und Etikette geachtet wird.“

Text: Michael Thiem

Fotos: Rafael Krötz