Wörwag Staustelle Staustelle

Staustelle

Fluch oder Segen? Eine Fahrt mit Sven Pechwitz, der bei Wörwag den Vertrieb der Lacke für Land- und Baumaschinen leitet, lässt Autobahnbaustellen in neuem Licht erscheinen.

Der Morgennebel hängt als grauweißer Schleier über Wiesen und Feldern. Vereinzelt dringt ein Sonnenstrahl durch den Dunst. Auf der Autobahn 8 von Stuttgart in Richtung München bilden die Scheinwerfer der Personen- und Lastwagen eine sich vorwärts schiebende Lichterkette.

Die Lücken zwischen den Fahrzeugen schrumpfen zusehends, Bremslichter blitzen immer hektischer auf. Willkommen im Berufsverkehr!

Mittendrin sitzt Sven Pechwitz am Steuer seines schwarzen Audis. Er bleibt gelassen. Als Vertriebsleiter ist er bei Wörwag unter anderem für Land- und Baumaschinen zuständig. Der Mann fürs Grobe.

Ein Urgestein, seit 31 Jahren arbeitet der 47-Jährige im Unternehmen. Angefangen hat er mit einer Ausbildung zum Lacklaboranten, später sattelte er den technischen Fachwirt und den technischen Betriebswirt drauf.

Sven Pechwitz auf der Baustelle, im Hintergrund ein Steinbrecher von Kleemann in Wörwag-Blau.

Er weiß, wovon er spricht, wenn er mit Kunden verhandelt. „Korrosionsschutz“, spricht er unvermittelt mit schwäbischem Zungenschlag und deutet mit der Rechten auf eine Straßenwalze neben der Fahrbahn, „steht bei Baumaschinen im Vordergrund.“

Noch rollt der Verkehr, doch die Lähmung befällt ihn schon. Typische Begleiterscheinung: manische Spurwechsler, die, den eigenen Vorteil suchend, alle anderen ausbremsen. Kopfschüttelnd führt Pechwitz seinen Gedanken fort: „Man kann sich vorstellen, dass so ein Baumaschinenlack einiges aushalten muss.“ Für Fräsen, Steinbrecher, Straßenfertiger, Walzen und derlei werde daher Pulverlack oder eine Kombination aus Pulver- und Nasslack verwendet. Allerdings seien die Ansprüche an die Außenhaut in den letzten Jahren stetig gestiegen.

Der Vertriebsleiter kratzt sich am Kopf. „Vor zwanzig Jahren gab es auf Kundenseite noch keine Lackspezialisten. Heute unterhalten viele eigene Labore, in denen sie untersuchen, was wir Hersteller produzieren.“ Neben dem Korrosionsschutz stünden Optik, Glanzgrad und Verlauf im Fokus. „Wir bewegen uns da vom Anspruch her in Richtung Lkw-Fahrerhaus!“

Wörwag setzt nicht nur auf Fachwissen, sondern auch auf persönliche Betreuung. „Das zeichnet uns als mittelständisches Familienunternehmen aus und verschafft uns gegenüber den Großkonzernen einen Wettbewerbsvorteil“, weiß der Vertriebsleiter. Ihn unterstützen in Deutschland vier Account-Manager, zwei Marktmanager und zwei technische Kundenmanager. Der Verkehr wird immer zäher. Plötzlich bremst der Wagen vor uns stark ab.

Auch auf der linken Spur geht nichts mehr. Er ist da, der Stau. „Ein ganzes Stück weiter vorn kommt eine Baustelle, da verengen sich die Spuren“, erklärt Pechwitz. Die Baustelle als Staustelle.

Eigentlich paradox, wenn man bedenkt, dass die Straßenarbeiten den Verkehrsfluss verbessern sollen.

Deutschlands Autofahrer sind leidgeprüft. Wie der Allgemeine Deutsche Automobilclub (ADAC) in seiner jüngsten Jahresbilanz mitteilt, steckten sie 2017 in rund 723.000 Staus insgesamt 457.000 Stunden fest. Das entspricht 52 Jahren. Aneinandergereiht kämen diese Straßenblockaden auf eine Länge von fast anderthalb Millionen Kilometern.

Staus kosten nicht nur Zeit und Nerven. Schon 2010 bezifferte die Bundesregierung den volkswirtschaftlichen Schaden hierzulande auf 250 Millionen Euro – pro Tag!

Für Stauforscher Michael Schreckenberg von der Universität Duisburg-Essen liegen die Ursachen auf der Hand:

„Abgesehen davon, dass die Zahl der Fahrzeuge auf den Straßen stetig steigt, ist Deutschland in Europa das Transitland schlechthin. Ost-West-, Nord-Süd-Verbindungen, alles läuft über die hiesigen Autobahnen. Allein der Lkw-Verkehr nimmt jedes Jahr um zwei Prozent zu.“

Und der verstopfe die Straßen nicht nur, er beschädige sie auch massiv: „Sie müssen bedenken, dass ein Lkw die Fahrbahn ungefähr so abnutzt wie 60.000 Pkw.“

Ein großes Problem sei, dass man in Deutschland mit dem Sanieren der vielen maroden Straßen kaum hinterherkomme und dadurch der ebenfalls dringende Ausbau erst recht stagniere.

„Wir sollten nicht gegeneinander kämpfen“

Stauforscher Michael Schreckenberg

Stauforscher Michael Schreckenberg von der Universität Duisburg-Essen.

Herr Professor Schreckenberg, sind Baustellen die Hauptursache der Staus auf Autobahnen?

Nein, nur vierzig Prozent der Staus gehen auf Baustellen oder Unfälle zurück. Die meisten Blockaden enstehen durch Überlastung sowie durch falsches Fahrverhalten. Und der Verkehr nimmt weiter zu. Wir müssten viel mehr Straßen ausbauen. Doch dazu fehlen die Mittel. Außerdem ließe sich auf den Baustellen einiges optimieren. Oft wird  auf Haupt- und Ausweichstrecke gleichzeitig gearbeitet, ein Ausweichen somit unmöglich. Da ist ein besseres Baustellenmanagement gefragt. Hierfür erarbeite ich gerade neue Konzepte.

Wie müsste man sein Fahrverhalten anpassen, um Staus möglichst zu vermeiden?
Autofahrer müssen sich kooperativer verhalten. Den Durchsatz an Baustellen etwa könnte man deutlich steigern, wenn die Fahrer nicht immer gegeneinander kämpfen würden. Der Reißverschluss funktioniert ja schon lange nicht mehr. Vernetzte, automatisierte Fahrzeuge werden hier künftig für Abhilfe sorgen. Wir haben berechnet, dass es ausreicht, wenn ein Prozent der Autos damit ausgestattet ist, um den Durchsatz an Engstellen spürbar zu erhöhen.

Das Navi schlägt bei Stau vor, die Autobahn zu verlassen. Ist das sinnvoll?
Nein. Alle anderen haben auch ein Navi . Dann stecken wir gemeinsam auf der Nebenstrecke fest. Ich sehe in den Geräten auch eine Gefahr. Indem sie die Fahrzeit hochzählen, stressen sie Autofahrer und verleiten zu erhöhtem Risiko.

Baumaschinen begleiten Pechwitz schon seit zwanzig Jahren.

Als wichtiger Teil der Verkehrsachse Frankreich–Deutschland–Österreich–Südosteuropa wird immerhin die A 8 ausgebaut, von überwiegend zwei auf drei Fahrstreifen je Richtung.

Rund um die Ausfahrt Merklingen im Alb-Donau-Kreis, der sich Pechwitz nun im Stop-and-go nähert, haben die Arbeiten 2012 begonnen. Die Ausfahrt liegt auf dem 23 Kilometer langen Bauabschnitt 4 zwischen Hohenstadt und Ulm. Geschätzte 3,5 Millionen Kubikmeter Erde werden 2021 bewegt worden sein, damit aus dem stockenden wieder fließender Verkehr wird. Zudem entstehen bis dahin 26 Querungsbauwerke: Brücken, Unterführungen, Durchlässe.

Wie dringend es der zusätzlichen Fahrstreifen bedarf, verdeutlicht die Verkehrsprognose. Das zuständige Regierungspräsidium Tübingen geht davon aus, dass in zwei Jahren täglich 85.000 Kraftfahrzeuge diesen Autobahnabschnitt passieren werden, gut 12.000 mehr als heute. Und als sei die Straßenbaustelle nicht schon gigantisch genug, buddelt sich parallel dazu die Deutsche Bahn mit der Neubaustrecke Wendlingen–Ulm durch den steinigen Untergrund der schwäbischen Alb. Aushubberge und Baggerkrater allenthalben. Wer hier aus dem Autofenster blickt, schaut auf eine beige-braune Mondlandschaft.

Daraus stechen allerlei Baumaschinen als bunte Farbtupfer hervor. Pechwitz’ Wagen steht mittlerweile still. Dennoch: „Während die meisten Autofahrer Baustellen als Ärgernis empfinden, freue ich mich, wenn ich dort Fahrzeuge unserer Kunden entdecke.“ Dazu zählen zwei der größten deutschen Maschinenhersteller, Wirtgen und Bomag.

Die Wirtgen-Gruppe mit Sitz im rheinland-pfälzischen Windhagen deckt mit ihren Marken Wirtgen, Vögele, Hamm, Kleemann und Bennighoven die komplette Prozesskette im Straßenbau ab – vom Brechen und Sieben über Mischen, Einbau, Verdichten bis hin zum Fräsen und Recyceln. (Infografik als PDF).

Die Maschinen sind weltweit im Einsatz, ihre Markenfarben Weiß, Grün, Orange und Blau stammen überwiegend aus Wörwags Pulverlackwerk in Renningen, knapp 25 Kilometer westlich von Stuttgart.

Dort wird auch das charakteristische Bomag-Gelb hergestellt. Das Unternehmen aus Boppard bei Koblenz produziert Maschinen zur Erd-, Asphalt- und Müllverdichtung, Stabilisierer, Recycler, Fräsen und Fertiger.

Sowohl mit Bomag wie mit Wirtgen arbeitet Wörwag seit vielen Jahren zusammen. Die Business-Unit fünf, zu der Pechwitz’ Team gehört, ist im Vergleich etwa mit der Automobilsparte der Lackfabrik klein, aber ebenso profiliert.

Der direkte Draht zum Kunden ist hier essenziell, Pechwitz ein gern gesehener Gast. Das liegt nicht nur an seiner Fachkompetenz, sondern auch an seiner offenen, unkomplizierten Art. „Ich bin nicht der typische Vertriebsleiter“, lächelt er. „Anzug und Krawatte trage ich selten.“

Ansichtssache: Auf Baustellen hält Pechwitz Ausschau nach Maschinen, die mit Lack von Wörwag beschichtet sind.

Seit gut zwanzig Jahren befasst sich Pechwitz schon mit Baumaschinen. Was ihn daran fasziniert? Die Kombination aus Schwerst- und Präzisionsarbeit.

So seien viele der Maschinen im autonomen Fahren weiter als der gemeine Pkw. „Heutige Straßenfertiger analysieren den Untergrund per Ultraschall und berechnen die Asphaltmenge, die eine perfekte Fahrbahnoberfläche erfordert. Oder Straßenwalzen. Mit den entsprechenden Koordinaten gefüttert, können sie eine Autobahn ohne Fahrer verdichten.“

Ein Motorrad schlängelt sich durch die Blechkolonnen, verfolgt vom einen oder anderen neidischen Blick. Privat begeistert sich Pechwitz auch für Zweiräder. Er restauriert alte Motorroller. Und fährt sie natürlich. Dabei hat er sich eigentlich vorgenommen, die knapp zehn Kilometer vom heimischen Pflugfelden nach Zuffenhausen auf dem Fahrrad zurückzulegen. Das sei schließlich gesünder. In der Firma setzt sich der Vertriebler ebenfalls für sportliche Betätigung ein, organisiert das traditionelle Fußballturnier und die alljährliche Skiausfahrt. „Dabei wird selbstverständlich auch das Après-Ski gebührend zelebriert“, schmunzelt er.

Das Smartphone klingelt. „Wie läuft es?“, ertönt die Stimme des Kollegen Matthias Knapp aus der Freisprechanlage. „Momentan gar nicht“, antwortet Pechwitz. „Stau an der Baustelle?“ „Ja, ein typischer Dienstagmorgen.“ Die meisten Staus verzeichnet der ADAC übrigens donnerstags, die wenigsten sonntags. Zeit für eine Pause.

Als rechter Hand ein gelbes „M“ lockt, während der Audi auf Höhe der Ausfahrt Merklingen dahinschleicht, verlässt Pechwitz die Autobahn. „Da gibt es den besten Kaffee“, findet er und lässt die Blechlawine erstmal hinter sich. Ein Heißgetränk und zwei Zigaretten später rollt er wieder auf die A 8. Noch stockt der Verkehr. Bald darauf beginnt er zu fließen. Auf dem folgenden, bereits dreispurig ausgebauten Abschnitt heißt es dann endlich: freie Fahrt! Von der Staustelle zur Spurtstrecke – hier haben die Baumaschinen ganze Arbeit geleistet.

Text: Thorsten Schönfeld

Fotos: Toby Binder