Lack in Bewegung – Produktnamen mit System: Unter der Dachmarke „Inmotiq“ vertreibt Wörwag Lacke für die Automobilindustrie. Alle anderen Industrielacke tragen den Markennamen „Industriq“. Wie’s funktioniert sehen Sie in der Grafik.
Als kurz vor der Jahrtausendwende eine epochale Neuerung anstand, hieß es: Dr. Gissel, übernehmen Sie – bauen Sie uns eine Analytikabteilung auf!
Der Fachmann für organische Chemie unterrichtete damals an der Universität Stuttgart Umwelttechnik. Doch er entschied sich für Wörwag. „Ich wollte immer schon vielseitig und praxisnah arbeiten, sehen, wie das, was ich entwickle, in der Praxis greift.“ Heute ist er einer der wichtigsten Innovationstreiber und agiert an der Schnittstelle zwischen Forschung und Anwendung.
In Zuffenhausen unterstehen ihm die Abteilungen Verfahrenstechnik, Werkstofftechnik und Analytik sowie das Kombinatoriklabor mit insgesamt fünfzehn Mitarbeitern.
Gissel kooperiert mit der Wissenschaft, etwa dem Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA), und der Deutschen Forschungsgesellschaft für Oberflächenbehandlung (DFO). Zudem referiert und schult er bei Kunden, Lieferanten und Anlagenbauern.
Der Wettbewerb ist hart, die Nase vorn hat, wer zuerst erkennt, was der Kunde außer dem besten Lack noch braucht. Zum Beispiel das beste Verfahren. Im branchenweiten, vom Bundesforschungsministerium geförderten Green-Carbody-Projekt untersuchte Wörwag mit, wie sich beim separaten Lackieren der Karosseriemodule Energie und Material sparen lassen.
Gissel: „Das erfordert eine andere Denkweise.“
Als Dagistan Durdagi vor 22 Jahren bei Wörwag anfing, bediente er einen Apparat mit eingebauter Spritzpistole: „Wir haben Wedelautomat dazu gesagt. Man hat die Platte hingehängt, einen der beiden Knöpfe gedrückt, fertig.“
Die Pistole kannte nur folgende Richtungen: auf und ab und von links nach rechts. „Heute kann man die Applikationsparameter sehr genau einstellen. Man lernt viel, was man auch in anderen Abteilungen gebrauchen kann“, erklärt Durdagi. Eine pneumatisch zerstäubende Pistole, die den Lack großzügig versprüht, ist nicht mehr zeitgemäß. Gissel: „Overspray ist heute inakzeptabel.“
Eine Hochrotationsglocke mit Elektrostatik dagegen trägt den Lack mit einem wesentlich niedrigeren Oversprayaufkommen und daher mit einem höheren Auftragswirkungsgrad auf. Der nächste Schritt, um das Overspray komplett zu vermeiden, wurde bereits im Green-Carbody-Projekt unternommen, um Zierleisten und Linien randscharf auftragen zu können.
Soll heutzutage das Dach eine andere Farbe bekommen, klebt man es bislang ab und besprüht es separat.
Bald kann der Lack auch hier in einem Durchlauf appliziert und eingebrannt werden. Gissel arbeitet mit seinem Team an solchen Forschungsprojekten mit. Auch steckt das Team die Köpfe zusammen, wenn es um die exakte Lackiertechnik geht.
„Um solche Werkzeuge zu entwickeln, brauchen Kunden und Institute unser Feedback: viele kleine Versuche, um Thesen zu prüfen. Daran arbeiten wir mit und stellen Material bereit.“
Seit 2011 arbeitet Johannes Brachs in der Abteilung. Der Leiter des Technikums schrieb bereits seine Bachelor-Arbeit bei Gissel. Heute koordiniert der Chemie-Ingenieur die täglichen Abläufe, arbeitet La-ckierprogramme aus und ist Ansprechpartner für das Thema „Abbildung der Lackoberfläche im Technikum“.
Wichtige Erkenntnisse steuert Silvie Mohr und ihr Team zum Thema „Spezifikationserfüllung von Lacken auf unterschiedlichen Kunststoffsubstraten“ bei. Für Klarheit sorgt letztendlich immer der Test.
Innovation heißt auch: über die eigene Branche hinausschauen, vergleichen, adaptieren.
Nasslack besteht aus mehreren Komponenten, darunter Lösemittel, Farbpigmente, Bindemittel. Die richtige Mixtur zu finden, ist aufwendig, zumal die Anforderungen an Haftung, Farbe, Effekt und Verlauf stetig steigen. Aus der Pharmaindustrie stammt die Hochdurchsatztechnik, mit der sich zu Testzwecken aus kleinen Stoffmengen in kurzer Zeit viele Mischverhältnisse erzeugen lassen.
Mit Hilfe der statistischen Versuchsplanung werden die optimalen Bestandteile für eine bestimmte Lackrezeptur gefunden. 2006 ging ein in Zuffenhausen mitentwickelter, von Bosch in Handarbeit aufgebauter Prototyp in Betrieb.
Michael Rosenow bedient die Anlage seit dem ersten Tag: „Das hat kein Lackhersteller vorher gehabt.“ Die Apparatur im Kombinatoriklabor mischt, lackiert, trocknet. Rosenow: „Der Roboter hantiert blitzschnell mit Becher, Waage, Rührer. Während er den ersten Auftrag rührt, beginnt schon der nächste Prozess.“
Binnen 17 Stunden schafft der Roboter 70 Substrate mit je zwei Lackschichten, also insgesamt 140 per Strichcode vorgegebene Formulierungen.
Zum Vergleich: Ein Laborant benötigt pro Mixtur bis zu einem Kilo Nasslack und bewältigt am Tag zehn Formulierungen.
Was bei den Lackierergebnissen aus dem Kombinatoriklabor zählt, ist die Oberflächengüte und die -messwerte. „Damit lässt sich berechnen, was mit welchem Lack machbar ist“, sagt Rosenow.
Auf einen großen Erfahrungsschatz kann dabei Sabine Ansorge zurückgreifen. Sie hat das Verfahren, hinter dem die bisher größte Einzelinvestition der Entwicklung steckt, mit aufgebaut. „Wir waren lange Vorreiter auf dem Gebiet“, erinnert sie sie.
Keine Selbstverständlichkeit. Denn die größte Herausforderung bei der Automatisierung sei es, immer auf dem neuesten Stand zu bleiben.
In der von Thomas Friedel betreuten Messtechnik ist ein gutes Auge gefragt.
Sperrige oder gebogene Teile, etwa eine komplette Autotür, vermisst der Meister der Maschinenbaumechanik von Hand. Friedel interessiert sich für die Schichtdicke des Lacks, den Verlauf, das Glitzern sowie die Wolkigkeit im Glanz. Die Vermessung zahlloser planer Stahlbleche und Kunststoffplatten überlässt er dem Oberflächenscanner.
Der arbeitet rund um die Uhr. Wenn er unerwartet stockt, erscheint auf Ivana Matics Handy, Gruppenleiterin beim Oberflächenscanner, eine Meldung. Denn bei ihr laufen die Fäden zusammen. Und Innovation kennt keinen Feierabend.
Text: Jo Berlien
Illustration: Jan Bazing