Nelson Mandelas Vorbild hat Henry Pienaar geprägt. Der Weg zum Glück

Der Weg zum Glück

Henry Pienaar hat sich den Traum vom besseren Leben erfüllt. Der technische Kundenbetreuer bei Wörwag in Südafrika wuchs in einer Township auf. Mit eisernem Willen stemmte er sich gegen das Schicksal und fand sein Glück. Das Porträt eines starken Mannes.

Über Nelson Mandelas Statur zu spekulieren, verbietet sich. Der Mann ist in Südafrika ein Gigant. Das sieht auch Henry Pienaar so. Darum zögert er kurz, ehe er sich der Bronzestatue nähert. Mit knapp 2,20 Meter ist das Standbild auf dem Nobel Square im schmucken Kapstadter Hafenviertel „V&A Waterfront“ so hoch, dass jeder Besucher zur Vaterfigur Südafrikas aufschauen muss.

Stolz stellt sich der Anwendungstechniker von Wörwag neben Mandela und blickt in ein Antlitz, das ihn durch sein Leben begleitet hat. „Er bedeutet mir alles. Ihm allein verdanken wir das Ende der Apartheid und die Gleichberechtigung“, sagt Pienaar, der dem späteren Staatsmann einmal sogar auf Augenhöhe begegnete.

Am 1. April 1990 im Standard House Building in Port Elizabeth. An Ort und Datum erinnert er sich genau. Knapp zwei Monate waren seit Mandelas Haftentlassung vergangen, als Pienaar ihm auf einer Veranstaltung des African National Congress (ANC) die Hand schüttelte. „Danach wollte ich meine nie mehr waschen“, schmunzelt er.

Tänzer der Indoni Dance Art & Leadership Academy in Kapstadt

Tänzer der Indoni Dance Art & Leadership Academy in Kapstadt

Der heute 45-Jährige dreht sich um. Einen Moment lang schaut er den Tänzern der Indoni Dance Art & Leadership Academy zu.

Auf der Granitfläche vor der Statue proben sie für eine Aufführung am Abend. Es geht um Rassendiskriminierung und die Kraft des Widerstands. Neu interpretiert. Modern. Die Eleven tanzen und singen. Körper verschlingen einander im Rhythmus der Trommel, ehe die Performance mit einem markerschütternden Schrei endet. In der Ferne thront der majestätische Tafelberg. Pienaar gefällt es hier. Gerne bliebe er noch. Doch wer die Geschichte des Mannes erzählen möchte, der seit 2003 bei Wörwag in Südafrika in der Kundenbetreuung arbeitet, muss in Kapstadt weitere Orte aufsuchen.

In der Township als Vorbild wirken

Kurz nach 11 Uhr. Die Township Langa liegt fünfzehn Kilometer vom Hafen mit der Mandela-Statue entfernt. Langa heißt Sonne. Doch nur tagsüber machen Temperaturen um 18 Grad den südafrikanischen Winter erträglich. Nachts wird es kalt. Wer nicht auf der Straße lebt, teilt sich mit vier bis sechs Leidensgenossen eine Wellblechhütte. Weder Heizung noch fließendes Wasser. Strom nur dann, wenn die auf abenteuerlichen Umwegen von hohen Masten hergeführten Leitungen nicht gerade einen Kurzschluss verursachen. Auf einem Nebenweg stehen Plastikeimer mit Sojabier, das in der Sonne gärt. Es wird hier gebraut. Und gebraucht: In einer Hütte lassen acht Männer einen 5-Liter-Eimer des Getränks kreisen. 200 000 Einwohner zählt die Schwarzensiedlung. Über Besuch freuen sie sich. Nur wenige Fremde trauen sich hierher. Doch wer den Menschen in die Augen blickt, verliert die Angst, entdeckt Offenheit und Neugier.

„Es ist wichtig, dass diese Leute auch die andere Seite sehen“, findet Pienaar.

Besuch im Township Langa

Zurück zu den Wurzeln: Der Besuch in der Township weckt Erinnerungen. Pienaar möchte als Vorbild wirken und den Weg in ein besseres Leben weisen.

Einer von ihnen

„Sie sollen begreifen, dass es ein Leben außerhalb der Township gibt. Ein besseres Leben. Wenn ihnen das klar wird, fangen sie an zu überlegen: Wie komme ich hier raus?“ Die Regierung unterstützt die Menschen dabei durch soziale Wohnungsbauprojekte.

Pienaar hat es aus eigener Kraft geschafft. Dennoch ist er einer von ihnen geblieben – auch wenn man ihm das nicht mehr ansieht. Heute trägt er Hemd und Anzug, in der Tasche ein Smartphone. Aufgewachsen ist Pienaar in einer Township bei Port Elizabeth. Weil Vater und Mutter nicht mehr für ihn aufkommen konnten, zogen Adoptiveltern ihn groß, zusammen mit sieben Stiefgeschwistern. „In der Township zu wohnen, machte mir damals nichts aus“, erinnert sich Pienaar. Der Abschluss der Grundschule markiert für den damals Zwölfjährigen eine Zäsur: „Ich erkannte: Wenn ich mein Leben ändern wollte, musste ich kämpfen.“ Es war ein Aufbegehren gegen das vermeintlich vorbestimmte Schicksal im Armenviertel.

Als Teenager ist Pienaar bereit, für seinen Traum vom besseren Leben alles zu geben. Tag für Tag.

Dazu gehören fünfzehn Kilometer Fußweg zur höheren Sekundarschule und wieder nach Hause. Lernen, lernen, lernen. Fürs Leben. Nach dem Abschluss dann die Ausbildung zum Lacklaboranten. Doch erst als er seine Arbeitskraft ohne Lohn anbietet, ergattert er den ersehnten Job. „Berufserfahrung zählt mehr als gute Noten“, stellt Pienaar fest. „Die Qualifikation findet in den Betrieben statt.“ Nach fünf Monaten hat er seine Chefs überzeugt. Endlich wird er fest angestellt. Ab da geht es Schritt für Schritt nach oben: Testlaborant, Prozessingenieur, seit 2003 dann bei Wörwag technischer Kundenbetreuer.

Seine Kompetenz ist mittlerweile anerkannt. Als Wörwag 2003 in Kapstadt eine Tochterfirma gründet, holt ihn Michael Krüger an Bord. Der Key-Account-Manager kennt Pienaar aus gemeinsamen Bürotagen beim Automobilzulieferer Venture in East London. Pienaar: „Ich bin Wörwag sehr dankbar. Die Arbeit dort hat mein Leben deutlich verbessert.“ Pienaar ist verheiratet, Vater zweier Töchter (13 und 18 Jahre alt) und Besitzer eines Häuschens. „Meine Kinder haben es leichter als ich. Ich kann ihnen die Ausbildung bezahlen.“ Die Älteste studiert Biochemie.

Henry Pienaar (links), Kundenberater Wörwag Kapstadt

Henry Pienaar (links) unterwegs beim Kunden

Als Anwendungstechniker betreut Pienaar die Firma Rehau in Port Elizabeth, knapp drei Autostunden von East London entfernt.

Dort werden unter anderem Stoßfänger für Mercedes lackiert. „Er macht seine Sache sehr gut.“ Das hat Wörwag-Geschäftsführer Dr. Peter Moritz schon im Beisein Pienaars vor Kunden herausgestellt. In knappen, aber klaren Worten. Die Anerkennung bedeutet Pienaar sehr viel. Lob ist für einen Farbigen in Südafrika nach wie vor die Ausnahme.

Familie und Kirche im Mittelpunkt

Pienaar ist ein Energiebündel, gibt auch in der Freizeit Vollgas. Der bekennende Christ engagiert sich in der altapostolischen Kirche. Als Ältester betreut er in seinem Viertel in East London mehrere Familien mit insgesamt 250 Angehörigen. Fast jeden Abend ist er deswegen auf Achse und am Sonntag steht der Gottesdienst auf dem Plan. Als einzige Entschuldigung dienen die Arbeit oder Krankheit.

Naheliegend, dass ihn auch der Besuch in Kapstadt zu einem Gotteshaus führt, einen halben Kilometer entfernt von der Township Langa. Der schlichten, nüchternen Bauart mit den grauen Dächern begegnet
 man im ganzen Land. Das Innere ähnelt einer Aula. Als einziger Blickfang verkörpert eine aufgestellte große Bibel den Fokus auf das Wesentliche. „Wir verzichten auf Symbole und Schmuck an den Wänden“, bestätigt Pienaar. „Allein die Schrift zählt.“ Und die Familie.

Henry Pienaar betreut Familien im Dienst der Kirche.

Im Dienst der Kirche: Pienaar betreut Familien aus der Gemeinde.

Daher verbringen die vier viel Zeit miteinander. Nicht nur in der Kirche, sondern auch beim Sport.

Samstags nehmen sie am „parkrun“ teil. Seine Frau Cherydene schließt sich ihm regelmäßig bei diesem Lauf an. Dabei ist er außerdem der Veranstalter des örtlichen „Kidd’s Beach parkrun“. Jede Woche absolvieren bis zu 40 000 Läufer den Fünf-Kilometer-Kurs durch East London. Gut zweihundert Mal war Pienaar schon dabei. „Ich möchte der erste sein, der auf 250 Läufe kommt. Dafür gibt es dann angeblich ein goldenes Trikot“, schmunzelt er. Die fünf Kilometer schafft er in knapp über 23 Minuten. Seine Bestzeit über diese Distanz beträgt 20:16 Minuten.

Letztes Jahr trat er beim „Legends Marathon“ an. In 5:25 Stunden rannte er unfassbare 68 Kilometer. Beim Trainieren dreht er meistens eine Runde durch das Armenviertel. Für Pienaar kaum der Rede wert, er steht zu seinen Wurzeln. Die Erinnerung lebt. Immer wieder möchte er andere inspirieren. Unermüdlich. Wie Mandela es vorgelebt hat: „Um frei zu sein reicht es nicht die Ketten abzustreifen, sondern so zu leben, um auch die Freiheit der anderen zu respektieren und zu verbessern.“

Text: Michael Thiem

Fotos: Laurent Burst