Audi setzt im Interieur den Anti-Knarz-Lack von Wörwag ein. Die Ruhe nach dem Sturm

Die Ruhe nach dem Sturm

Die Akustikexperten bei Audi spüren im Innenraum eines Fahrzeugs Störgeräusche auf. Spezieller Haptiklack hilft anschließend dabei, diese zu vermeiden. Eine akustische Testfahrt ins Reich der Onomatopoesie.

Puh. Aber nur ganz am Anfang. Zwei Minuten später ist es schon eher puuuh. Und mit jeder weiteren Sekunde kommt ein u dazu. Die Wahrnehmung ändert sich rasend schnell – wie die Temperatur im Fahrzeug. Im Innenraum des Audi Q5 steht die Luft. Die Hände werden feucht, der Puls steigt. Es ist heiß. Und es wird schnell heißer. Das kann jeder ausprobieren, wenn er sich bei knapp 25 Grad in ein Fahrzeug setzt und die Fensterscheiben schließt. Ruhe. Aber Entspannung? Von wegen. Die Klimaanlage ist ausgeschaltet. Keine Lüftung, kein Radio.

Nur der eigene Puls. Und die ersten Schweißperlen. Ziel der ungewöhnlichen Testfahrt auf dem Audi-Prüfgelände in Ingolstadt ist, Störgeräusche zu erkennen und deren Ursachen zu finden: knarrendes Leder, vibrierende Kunststoffteile oder scheuerndes Metall. Laute, die den Kunden das Vergnügen an einem neuen Wagen schnell nehmen können. Anschließend werden die Geräusche abgestellt – auch mit Hilfe eines speziellen Haptiklacks. Der wertet den Innenraum nicht nur auf und macht ihn widerstandsfähiger. Vor allem hilft er den Experten, zehn bis fünfzehn Prozent der Störgeräusche im Wageninneren zu beseitigen.

Großer Lauschangriff

Einer, der alles hört, ist Günter Klos. Er ist im Bereich Qualitätssicherung Gesamtfahrzeug Leiter der Abteilung Wasserdichtheit und Geräusche. Klos ist das Ohr in der Qualitätssicherung bei Audi. Dort wird seine Abteilung nur das „Knister-Knaster-Team“ genannt. Denn wenn sich der 47-Jährige in ein Auto setzt, ist es Zeit für Onomatopoesie. Ein Begriff, den Schüler auf dem Gymnasium in der siebten Klasse lernen und danach in der Regel schnell vergessen. Wir kennen die Gefühlswallungen aus Comics. Onomatopoesie bedeutet Lautmalerei. Zwei Beispiele: „bumpabumpabumpa“, wenn ein Ball die Treppe hinunterspringt. Oder „grmpf“, wenn sich Donald Duck mal wieder ärgert.

„Der Eskimo kennt hundert Begriffe für Schnee. Wir haben eben unseren Wortschatz für Geräusche im Fahrzeug“, Günter Klos

Seit gut 25 Jahren gibt es die Abteilung. Ihr Auftrag: der Akustik im Fahrzeuginneren ihr Ohr schenken. Klos und sein achtköpfiges Team werden bereits aktiv, wenn es noch nichts zu hören gibt.

Knapp drei Jahre vor Produktionsbeginn begleiten die Experten den Entwicklungsprozess und studieren die digitalen Modelle anhand von Plänen und Computersimulationen. Sie „hören“ mit den Augen. „Wir gehen alle Blechengstellen mit den Konstrukteuren durch“, erläutert Klos. „Wir wissen beispielsweise, dass Flüssigkeiten bei der Lackierung nicht sauber ablaufen können, wenn der Abstand der Bleche weniger als zwei Millimeter beträgt.“ Dies führt später zu Knackgeräuschen.

Auch Schweißpunkte werden unter die Lupe genommen, ebenfalls schon im Entwicklungsstadium. Denn im schlechtesten Fall kann es dort später reiben. „Knarz, knack, flirr oder schwirr“, fasst Klos die akustischen Wahrnehmungen lautmalerisch zusammen. „Wir haben eine Checkliste, die wir penibel abarbeiten“, verrät Klos, der sich weniger als Ingenieur sieht denn als Detektiv.

„Wir sind Techniker, tragen keine Krawatte, sondern sportliche Kleidung. Oft kriechen wir förmlich in die Fahrzeuge.“ Hinterher muss nicht selten die verschwitzte Kleidung gewechselt werden. Manchmal vergehen Tage, bis der Grund eines Störgeräuschs gefunden ist. Blechlaute sind besonders schwer zu orten. Bei einem A7 wurde zuletzt sogar ein Seitenteil aufgeschnitten. Der Blechknacker stammte von einem Dämpferlager. Ein Einzelfall. Und doch fast Routine. Denn ständig neue Herausforderungen sind die Regel.

Sobald die ersten Prototypen und Vorserienfahrzeuge auf Rädern stehen, geht es auf die Straße. Bei den Akustik-Testfahrten sind Hartnäckigkeit und Fitness gefragt. Ein Kollege sitzt am Steuer, der andere auf dem Rücksitz, im Kofferraum oder auch schon mal bei geöffneter Motorhaube auf dem Kotflügel – mit einer Taschenlampe in der Hand und bei Bedarf einem Stethoskop am Ohr. Hören, wo es quietscht, surrt oder knirscht. Jedes Geräusch wird durch bestimmte Bezeichnungen protokolliert, die bei Audi längst zu stehenden Begriffen geworden sind. Alle Abteilungskollegen wissen sofort, was gemeint ist. Sie sprechen dieselbe Lautsprache.

Alles eine Frage der Temperatur

130 Tage im Jahr sind die Akustikexperten weltweit unterwegs. Pro Woche legen sie fünftausend Kilometer zurück. Das Klima ist dabei ein extremer Begleiter – es ist entweder extrem kalt oder extrem heiß. Denn die Temperatur hat einen großen Einfluss auf die Geräuschkulisse im Innenraum. Materialien dehnen sich bei großer Hitze aus, bei Kälte werden Leder oder Kunststoffe spröde. Klos: „Je wärmer, desto knack.“

Alle Geräusche werden fein säuberlich aufgelistet und benotet. Note 1 ist als sogenannter Liegenbleiber definiert, Note 10 heißt: keine Beanstandung. Bei Note 5 des Akustik-Bewertungssystems geht Audi davon aus, dass ein kritischer Kunde in die Werkstatt fährt.

Einmal im Jahr findet eine Akustik-Testfahrt mit der kompletten Modellpalette statt. Audi macht das seit zwanzig Jahren. Auf Rüttelstrecken spulen alle Modelle je zehntausend Kilometer herunter. Anschließend bitten Klos und sein Team zum Soundcheck. Denn nicht nur im Neuzustand muss das Fahrzeug ohne Störgeräusche sein. Auch nach Jahren soll dies so bleiben. Kritische Stellen sind Armlehnen, Mittelkonsole, Türverkleidungen und Zuziehgriffe. Sobald zwei Kunststoffteile aneinandergeklipst werden, klingeln die Alarmglocken.

Eine Mittelkonsole besteht immerhin aus rund zweihundert Teilen. Im Laufe der Jahre können sich diese zudem geringfügig verschieben. Die Folge: Es quietscht, knarzt und knirscht.

Um die richtige Vorsorge zu treffen, führte Audi eine Studie mit Lacken mehrerer Anbieter durch. Und entschied sich für den Anti-Knarz-Lack von Wörwag. „Im Vergleich mit anderen war hier das Ergebnis deutlich besser“, so Klos.

Bei Testfahrten mit einem Vorserienexemplar des A3 wurden 175 Störgeräusche erkannt und dokumentiert. Um die Ursachen der Geräusche zu finden und künftig zu vermeiden, stellen die Akustikexperten das Fahrzeug auf eine sogenannte Hydropulsanlage. Der Wagen wird dazu auf vier Hydraulikzylindern positioniert, die computergesteuert durch schnelle Auf- und Abbewegung das Auto allen gewünschten Frequenzen aussetzen. „Mit diesem Analysehilfsmittel bringen wir bei Bedarf im Fahrzeug alles zum Schwingen“, bestätigt Klos und lädt zum Mitschwingen ein.

Gut gefrühstückt? Hart im Nehmen? Die Frequenz steigt stetig an. Das Knie knallt gegen die Mittelkonsole, das Brötchen im Magen tanzt Lambada. „Wir stellen die Frequenz jeweils so ein, dass wir das Störgeräusch ständig hören. So spüren wir es leichter auf“, erklärt Klos.

Achtung, Kopf! Die Hand des Beifahrers patscht auf die Seitenscheibe. Es geht hin und her. Der Wagen hüpft. Die Frequenz steigt, ein Gurtschloss schwirrt wie ein Schwarm Bienen. Die Hutablage klappert, die Armlehne knarzt, die Sonnenblende wimmert. Spätestens jetzt ist klar: Wer hören will, muss fühlen. Dieser Aufbau unter Laborbedingungen ist natürlich extrem. Kein Straßenbelag dieser Welt könnte ein Auto derart malträtieren.

Klos berichtet, wie vor einiger Zeit das Flirren des Reißverschlusses eines Erste-Hilfe-Päckchens Probleme bereitete. Abhilfe schaffte der Ersatz durch eine Kordel.

Klos: „Schon ein oder zwei Geräusche können den hochwertigen Qualitätseindruck eines Autos zunichte machen.“

Zu den Aufgaben der Qualitätssicherung gehört auch der Soundcheck. Denn die Innenräume vieler Fahrzeuge werden immer mehr zu mobilen Konzertsälen.

Zur Prüfung verwendet Klos eine spezielle CD mit extremen Tiefen und außergewöhnlichen Höhen. Getestet wird ein Frequenzbereich von 35 bis 447 Hertz. Im Magen kribbelt es dabei wie auf einem Metallica-Konzert in der ersten Reihe.

Auch beim Bass und sonoren Sound von David Munyons „Four Wild Horses“ darf nichts schwirren oder klappern. Um das zu testen, wird die Lautstärke auf einen Richtwert aufgedreht.

Privat fährt Klos einen A6. Manchmal zum Leidwesen seiner Frau geht er auch hier jedem fremden Geräusch auf den Grund. Nur ausnahmsweise duldet er in seinem Wagen ungewöhnliche Laute. Reggaeton – lateinamerikanische Musik. Die CD hat ihm sein Sohn ins Auto gelegt.

Michael Leinmüller kümmert sich als Marktmanager weltweit um die Innenlacke von Automobilen.

Michael Leinmüller, Marktmanager

Michael Leinmüller

absolvierte 1982 bei Wörwag eine Ausbildung zum Lacklaborant. Als Marktmanager kümmert er sich heute weltweit um die Innenlacke von Automobilen. „Meine Aufgabe ist besonders schön. Denn die Anmutung und die Qualität unserer Softlacke gestalten den Alltag angenehmer.“

Nass-in-nass-Verfahren

Bereits seit 2006 setzen Automobilbauer das von Wörwag entwickelte Nass-in-nass-Verfahren in der Serienproduktion ein. Ohne Trocknung im Ofen wird fünf bis sieben Minuten nach dem ersten Lackiervorgang ein Haptiklack auf Wasserbasis aufgetragen. Dieser wirkt dämpfend und verbessert die Innenraumakustik. Der Aufbau erfüllt die einschlägigen Spezifikationen der Premiumhersteller auf Substraten wie ABS, PC/ABS und PC. Im Prinzip kann jedes Bauteil aus diesen Materialien beschichtet werden.

Audi verwendet das Haptiklacksystem R6483 H. Auch bei BMW wird das Prinzip der Nass-in-nass-Beschichtung mit dem entsprechenden Decklacksystem angewandt. Weitere Hersteller planen dieses Konzept in Serie einzusetzen.

Text: Michael Thieme

Fotos: Audi AG, Jürgen Krämer / Medikanto