Mateo Dicha ©José Carlos Zarcero Weißer geht es nicht

Weißer geht es nicht

Weiß ist begehrt. Bei Autolacken gilt es als Klassiker. Farben entwickeln, tönen und prozesssicher machen: Dabei geht es nicht nur um technische Fragen. Für die Weißmacher bei Wörwag ist es vor allem Gefühlssache.

Niemand stoppt Mateo Dicha. Nein, kein Violett! Der Kunde will Weiß. Nevadaweiß für den Tankdeckel eines Seat. Dazu muss die Tönung des Autolacks nachjustiert werden. Doch der Mann aus dem Farblabor bei Wörwag im katalanischen Dosrius, knapp vierzig Kilometer nördlich von Barcelona, verfolgt sein Ziel unbeirrt. Getragen von 35 Jahren Erfahrung in der Farbentwicklung und -produktion, gibt Dicha einen Spritzer Violett ins Weiß. Und noch einen. „Weißes Weiß gibt es nicht. Die Tönung entscheidet“, verrät der 53-Jährige, rührt und präsentiert das Ergebnis.

Auf den ersten Blick Weiß, auf den zweiten Nevadaweiß, das jetzt die technischen Vorgaben erfüllt. Dicha vertraut den Messwerten. Sie zeigen: „Gelb hilft hier nicht, es muss etwas Rot-Violett sein.“ Dann stellt er den Becher zur Seite. „Es gibt viel kompliziertere Farben als Weiß.“ Weiß ist der Renner, ein Klassiker. Und das weltweit. In Europa ist seit Jahrzehnten fast jedes dritte Auto weiß oder weiß-metallic. Die Popularität der Farbgruppe Weiß werde bleiben, meint Helmuth Dengel, Leiter des Entwicklerteams für Premium- und Unilacke: „Die Farbe ruft Emotionen hervor, wirkt sauber, rein, edel und robust.“

„Die Kunst besteht darin, den Lack so einzustellen, dass er sich überhaupt verarbeiten lässt.“ Helmuth Dengel

Innen immer gleich heiß

Hinzu kommen praktische Aspekte. Weiß steht jedem Modell, vom Kleinwagen bis zur Luxuslimousine. Steinschläge, Kratzer und sonstige Defekte fallen weniger auf. Dengel ergänzt: „Auf den Sicken und Kanten heutiger Karosserien wirkt Weiß besser als auf den weicheren Formen der Achtzigerjahre.“ Ein weißes Fahrzeug wird seltener geputzt.

Eine verbreitete Annahme erweist sich indes als falsch: In einem weißen Auto bleibt es bei Sonne keineswegs kühler als in einem schwarzen. Nach einer Studie des Touring Club Schweiz (TCS) hat die Lackfarbe keinen Einfluss darauf, wie warm es im Innenraum wird. Außen hingegen erhitzt sich schwarzer Lack tatsächlich schneller und stärker als weißer.

Vermutlich ist deshalb Weiß in heißen Ländern besonders beliebt – auch in Spanien. „Neben Schwarz und Rot ist Weiß bei uns die wichtigste Farbe“, bestätigt Montse López, die in Dosrius als Vertriebsexpertin das Ohr am Kunden hat. Dazu zählen Daimler, VW, Seat, Nissan sowie deren Zulieferer von Kunststoffanbauteilen. Kleinere Anfragen nach Service oder Anpassung bearbeiten die neun Mitarbeiter in Dosrius. Geht es um größere Mengen oder Modifikationen, sind die Experten in Stuttgart am Zug.

Farbeindruck ist subjektiv

Worauf kommt es an bei der Entwicklung eines weißen Fahrzeuglacks? „Weiß ist nicht gleich Weiß“, konstatiert Herbert Kost, Leiter Design und Pigmente. „Gelbliches Weiß sieht alt aus, das finden manche hässlich. Hat es aber einen Blaustich und strahlt, dann überzeugt es.“ Was der eine schon als grau wahrnimmt, scheint dem anderen gerade noch weiß. Klare Kriterien, wann Weiß noch weiß ist und wann es umschlägt, gibt es nicht. Der subjektive Farbeindruck entscheidet.

Die Ansprüche der Kunden sind in den letzten Jahren gestiegen. Metalliclacke und Perleffekte verdrängen Unifarben, Mehrschichtaufbauten stellen den Entwicklern knifflige Aufgaben. Schließlich geht es nicht nur um den richtigen Farbton, sondern auch um die Prozesssicherheit in der Serie. Punktuelles Ausbessern direkt am Wagen (Spot-Repair) und neue Applikationsverfahren sind weitere Aspekte, die es schon im Frühstadium der Entwicklung zu berücksichtigen gilt.

In weißer Mission: Herbert Kost, Armin Lechner und Helmuth Dengel (von links). ©Frederik Laux

In weißer Mission: Herbert Kost, Armin Lechner und Helmuth Dengel (von links).

Ein Knackpunkt ist die Deckkraft. Da Weiß im Gegensatz zu anderen Lacken nur ein Pigment enthält, lautet die Devise: Titandioxid dazugeben, bis der Lack deckt. Dreißig Prozent kann bei Weiß der Pigmentanteil betragen.

Eine Menge, von der andere Lacke weit entfernt sind. Doch Dengel kennt die Probleme, die damit einhergehen: „Wenn der Pigmentanteil so hoch ist, verläuft der Lack ganz anders. Die Kunst besteht darin, ihn so einzustellen, dass er sich überhaupt verarbeiten lässt.“ Unter anderem müsse man die richtige Technik zur Benetzung des Pigments kennen.

Auch Antonio Valverde, bei Wörwag in Spanien für Farbkonzeption und -entwicklung verantwortlich, weiß, dass schon kleinste Unterschiede entscheiden. „Manchmal weichen Karosse und Kunststoffteile, die im selben Farbton lackiert sind, optisch voneinander ab“, so Valverde. „In solchen Fällen weisen die Kunden das Ergebnis oft als unharmonisch zurück. Und das, obwohl wir ihre Vorgaben exakt einhalten.“

Forschung im Kundenauftrag

Weiße Effektlacke zur Serienreife zu entwickeln, ist eine Gleichung mit vielen Unbekannten. In einem zweijährigen Forschungsprojekt hat Wörwag im Auftrag der Daimler AG ermittelt, welcher Weißton in nur einem Lackierdurchgang sowohl auf Kunststoffanbauteilen wie auf der Karosse die maximale Helligkeit ergibt. Die Antwortet heißt: Mondsteinweiß. „Geht man damit zum Designer, dann will er es nicht, weil es ihm zu dunkel ist“, berichtet Armin Lechner aus dem Entwicklungsteam Uni- und Premium-Colors. „Die Produktion dagegen ist begeistert, weil sie es stabil verarbeiten kann.“ 

Als Kompromiss verwendet Daimler in der Serie Diamantweiß. Da auch hier der Anteil an Deckpigment extrem hoch liegt, können Effekt- und Buntpigmente nicht in einer Lackschicht gemischt, sondern müssen aufeinander geschichtet werden. Eine weitere Anforderung, die den Entwicklern Grenzen setzte, war ein füllerloser Lackierprozess. Als sogenannter kompakter oder integrierter Lackierprozess (integrated paint process, IPP) ist er im Automobilbau längst Standard.

Jedoch: „Wenn ich den Füller weglasse, fehlt meiner Karosse ein wichtiger Sonnenschutz“, erklärt Lechner. „Den muss dann auch noch die Weißschicht übernehmen.“ Nicht immer muss es Weiß sein. Dengel setzt beim eigenen Wagen und in der Freizeit auf ein Kontrastprogramm. In einer Band spielt der Teamleiter regelmäßig Piano und Bassgitarre. Beide sind mattschwarz lackiert. Dengel: „Farbe ist Emotion.“ Und die tendiert bei ihm auf der Bühne ausnahmsweise weg vom Weiß.

In der Entwicklung und Tönung der Farben kommt regelmäßig das Spektralphotometer „BYK-mac-i“ zum Einsatz. ©José Carlos Zarcero

Das Spektralphotometer „BYK-mac-i“

In der Entwicklung und Tönung der Farben kommt regelmäßig das Spektralphotometer „BYK-mac-i“ zum Einsatz. Es bestrahlt die Messfläche mit einer Folge von Lichtbändern, die das gesamte Spektrum abdecken, und misst zu jedem Band die Remission. Gemessen wird bei Unifarben jeweils aus einem Winkel von 45 Grad, bei Effektlacken kommen vier weitere Winkel hinzu. Jede Messung ergibt einen Punkt, der sich im sogenannten CIELab-Farbraum verorten lässt. Diesen spannen drei Achsen auf: Rot–Grün, Blau–Gelb und die vertikale Luminanz- oder kurz L-Achse mit den Endpunkten Weiß und Schwarz. Anhand der Koordinaten vergleicht der Entwickler den Messpunkt mit den Vorgaben und erfährt so, ob der Farbton innerhalb der Toleranz liegt.

BYK-mac-i-Modell

Der CIELab-Farbraum

Die Internationale Beleuchtungskommission CIE (Commission Internationale de l’Éclairage) hat das CIELab-Farbmodell 1976 veröffentlicht. Sein Vorgänger stammt aus den Dreißigerjahren. Von der Erzeugungs- oder Wiedergabetechnik unabhängig, orientiert es sich an der menschlichen Wahrnehmung.

* Die Sterne kennzeichnen seit 1976 das Farbraummodell CIELab. Sie dienen als Unterscheidung zum davor gültigen Lab-Farbraum.

„Creme ist für die zweite Hochzeit“

Philipp Tingler, illustriert von Julia Worbs

Philipp Tingler ist Schriftsteller, Blogger, Philosoph und Literaturkritiker. Tingler hat an der Universität St. Gallen, an der London School of Economics und an der Universität Zürich Ökonomie und Philosophie studiert sowie an der Konjunkturforschungsstelle der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich gearbeitet. Er lebt in Zürich. www.philipptingler.com

Ist Weiß Ihre Lieblingsfarbe?
Durchaus nicht. Es gibt viele Gelegenheiten, bei denen ich Weiß fürchterlich finde.

Um sich so vehement dagegen auszusprechen, muss man die Farbe eigentlich ziemlich gern haben. Oder?
Ich gestehe, dass Weiß recht anspruchsvoll ist. In der Tat ist es eine der schwierigsten Farben. Obschon viele Menschen das Gegenteil denken.

Gibt es einen weißen Gegenstand, der Ihnen gefällt?
Etliche. Porzellan etwa mag ich am liebsten in Weiß, ohne Dekor.

Wann gefällt Ihnen Weiß nicht?
Die Farbenlehre sagt: Hell macht breit. Deshalb muss man mit weißen Hosen oder gar Röcken vorsichtig sein, sofern man nicht sehr schlank ist. In der Herrengarderobe sollten nur T-Shirts, Smokinghemden sowie Dinnerjackets für Schiffsreisen und Anlässe im Freien weiß sein. Und die sprichwörtliche weiße Weste zum Frack. Wegen Regel Nummer eins gilt insbesondere: keine weißen Gürtel. Das betrifft jedes Geschlecht und Alter. Es sei denn, man ist jünger als zehn.

Welche Farbe hat Ihr Auto?
Im Fahrzeugbrief steht „blau-metallisiert“. Ich habe die Farbe allerdings nicht wirklich ausgesucht, sondern den Wagen genommen, wie er war: Mercedes R107, Jahrgang 1980. Der Farbton passt aber gut dazu.

Wo gibt es Weiß bei Ihnen zu Hause?
An den Wänden zum Beispiel. Dann beim Kurland-Porzellan. Die Saarinen-Stühle nebst Tisch sind ebenfalls weiß.

Wie erklären Sie einer Braut, dass sie im weißen Kleid unvorteilhaft aussieht?
Weiß trägt auf. Das sollte jede Braut bedenken. Schon ein Eierschalenton kann einen großen Unterschied bedeuten, nicht Creme. Das ist für die zweite Hochzeit.

Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn an der Ampel neben Ihnen ein weißes Fahrzeug hält?
„Nicht schon wieder!“ Es sei denn, es handelt sich um einen Rolls-Royce Phantom. Dann denke ich: „Hello, Kanye!“

Warum ist Weiß bei den Autolacken so beliebt?
Weiß hat das Image, klassenlos zu sein. Nach konventioneller Farbpsychologie gilt es außerdem als diskret, sensibel, pflichtbewusst. Halter weißer Wagen waschen diese angeblich häufiger und befolgen die Straßenverkehrsordnung. Nach Rock ’n’ Roll klingt das nicht gerade. Dazu passt, dass manche Weiß wegen der Sicherheit wählen. Helle Farben sieht man besser. „Wer die sicherste Farbe fahren will, der sollte sich beim Autokauf für ein mintgrünes Fahrzeug entscheiden“, habe ich im Internet gelesen. Tja. Leider leben wir nicht mehr im Jahr 1985. Oder zum Glück.

Welche Farbe passt zu welchem Fahrzeug? Und warum?
Hier lassen sich die drei wichtigsten Farbregeln aus der Garderobenwissenschaft übertragen. Als da wären: Erstens müssen Damen und Herren über 35 mit jeder Art von Farbe sehr vorsichtig umgehen. Dies gilt auch für die Wahl ihrer Autofarbe. Bunte Autos stehen jungen Leuten. Zweitens: Forcierte Mixturen, die unkonventionell wirken sollen, sind meist nur peinlich, zum Beispiel Anzüge in Leuchtfarben. Das automobile Äquivalent wären pastellene Kleinwagen. Oder Rennstreifen auf französischen Großraumlimousinen. Drittens: Menschen mit Übergewicht tragen mit Vorteil gedeckte Farben. Dieser als Helmut-Kohl-Regel bekannte Leitsatz lässt sich ebenfalls ungebrochen auf die automobile Welt übertragen. Größere Fahrzeuge kreuzen vorzugsweise in dunkleren Farben auf: anthrazit, jagdgrün, tiefseeblau. Hellgrau wäre hier schon extrem.

Welche Rolle spielt Weiß in der Kunst?
Eine wichtige. Neben Gold und Blau zählt Weiß zu den prominentesten Farben der Kunstgeschichte. Weiß symbolisiert nicht nur die Unschuld. Spätestens seit der Wiederentdeckung der antiken Tempelpracht, die in der Antike selbst, wohlgemerkt, ebenso bunt bemalt war wie die Plastiken, steht es auch für die Werte der Aufklärung: Gleichheit, Gerechtigkeit, Vernunft. Eine sehr tugendhafte und rationale Farbe also.

Und zum Schluss: Welche ist denn nun Ihre Lieblingsfarbe?
Mittelbeige.

Text: Michael Thiem

Fotos: José Carlos Zarcero, Frederik Laux