Nesner rasiert sich auf dem Fahrersitz, der Spiegel klemmt am Lenkrad. ©Toby Binder Roadtour de France

Roadtour de France

Das Fahrerhaus ist Waldemar Nesners Arbeitsplatz – und seine Küche, sein Wohnzimmer und Schlafraum. Von Montag bis Freitag lebt Nesner auf sechs Quadratmetern. Seit zehn Jahren bringt er Wörwag-Produkte zu Kunden nach Frankreich. Eine Million Kilometer hat er so zurückgelegt. Ein Roadtrip zwischen Truckerromantik und Knochenjob.

Auf der Plastikdose mit dem löslichen Kaffee steht Starthilfe. Die können wir brauchen. Schließlich ist es kurz nach fünf Uhr morgens. Auf dem Rastplatz La Suzannerie, knapp dreißig Kilometer nördlich von Le Mans, herrscht Stille.

Leichter Nebel wabert über die A 28 und um Nesners Lastwagen. Die weinroten Stoffvorhänge im Fahrerhaus sind noch zugezogen, doch der 51-Jährige sitzt schon hinterm Lenkrad und misst das Kaffeepulver ab.

Dann öffnet er eine Schublade und schaltet den Wasserkocher ein. Bevor der Kessel pfeift, ist Nesner mit dem Rasieren fertig. Er gießt das Wasser in den Thermobecher, gibt sechs Würfelzucker dazu, rührt kurz um. Jeder Handgriff sitzt. Auch der zur Zigarettenschachtel.

„Kaffee und Kippe, ein echtes Trucker-Frühstück“ Nesner liebt seinen Job. Seit zehn Jahren fährt er Woche für Woche die Route durch die Normandie, 100 000 Kilometer im Jahr, und versorgt Automobilzulieferer mit Lacken von Wörwag. Am Steuer fühlt er sich unabhängig: „Ich muss mich bei den Pausen nicht nach der Sirene richten.“ Nicht von ungefähr zählt Der Todestrieb von Jacques Mesrine zu seinen Lieblingsbüchern.

In der Autobiografie beschreibt Frankreichs Staatsfeind Nummer eins seine Zeit in einem Pariser Gefängnis und seinen Abschied von den Konventionen des bürgerlichen Lebens. Nesner ist kein Rebell, geht aber seinen Weg. Seit 1987 arbeitet er als Fernfahrer, seit sechzehn Jahren bei Schäfauer in Bietigheim-Bissingen, einem Familienunternehmen, das regelmäßig für Wörwag unterwegs ist.

„Ich muss mich bei den Pausen nicht nach der Sirene richten“, Waldemar Nesner.

Ein Mann, sein Truck und die Straße

Aus seiner Zeit bei der Marine stammen die Tattoos am rechten Unterarm. Im linken Ohr glitzern zwei goldene Ohrringe. Als junger Mann bereiste er die Welt. Heute gibt es für ihn nichts Schöneres, als den Vierzigtonner auf die Autobahn zu lenken, Gas zu geben und zu „hören, wie er schaffen muss“. 460 PS hat der Motor. Das maximale Ladegewicht beträgt 24 Tonnen. Bis zum zulässigen Reisetempo von achtzig Kilometern pro Stunde dauert es bei hoher Zuladung mehrere Minuten.

Nesner schaltet auf Tempomat und lässt den Sattelzug rollen – ein Mann, sein Truck und die Straße. „Wenn ich die beiden Signalhörner auf dem Dach aufdrehe, hört sich das an, als laufe ein Schiff in den Hafen ein“, schmunzelt er.

Knapp zweitausend Kilometer ist die wöchentliche Roadtour de France lang. Nesner fährt sie stets im gelben Truck. Der Lack der Fahrerkabine seines Mercedes Actros reflektiert die ersten Sonnenstrahlen, die am Horizont auftauchen. Bereits am Vortag hat er vier Kunden beliefert. Heute stehen vier weitere auf der Liste. Meistens transportiert er Nasslack, manchmal auch Pulverlack. Fast 1400 Tonnen schickte Wörwag letztes Jahr nach Frankreich, 230 davon fuhr Nesner.

Lieferservice: Bis zu neun Wörwag-Kunden warten in Frankreich jede Woche auf neue Ware. ©Toby Binder

Lieferservice: Bis zu neun Wörwag-Kunden warten in Frankreich jede Woche auf neue Ware.

Nesner kennt jeden Kilometer

Nächste Station: Vire, eine Gemeinde in der Region Basse-Normandie. Nesner hält sich an sein Navigationsgerät, das bei der Routenplanung nicht nur Durchfahrtshöhen berücksichtigt, sondern auch beachtet, dass es sich um einen Gefahrguttransport handelt. Manche Straßen sind daher tabu, darunter viele Landstraßen und enge Ortsdurchfahrten.

Unterwegs braucht Nesner das Navi kaum noch. Längst kennt er jeden Kilometer. Der Weg nach Vire führt über Alençon und Flers. Die Landstraße D 962 ist hügelig, immer wieder passiert sie Getreidefelder und die typisch normannischen Steinhäuser mit ihren malerischen Fassaden. Das nächste Ziel liegt in einem kleinen Industriegebiet. Nesner kennt die Logistiker dort, der Halt ist kurz. Zehn Minuten später sind die beiden Paletten mit Flüssiglack abgeladen, die Fahrt geht weiter.

„Meistens plane ich das Wochenende. Diesen Samstag zum Beispiel baue ich das Vorzelt meines Wohnwagens auf“, erzählt Nenner.

Aus seiner Zeit bei der Marine stammen die Tattoos am rechten Unterarm. ©Toby Binder

Aus seiner Zeit bei der Marine stammen die Tattoos am rechten Unterarm.

172 Kilometer bis zur Raststätte Bolleville

Zeit zum Nachdenken. Wie so oft, wenn Nesner die Kilometer abspult: „Meistens plane ich das Wochenende. Diesen Samstag zum Beispiel baue ich das Vorzelt meines Wohnwagens auf.“ Dann dreht er am Radio. Am Lenkrad höre er gerne Chansons, sagt er. Und muss lachen. „Eigentlich ist das nicht meine Musik“, gesteht der Mann, dessen Bruder Tommy Lee Jones sein könnte – „einer meiner Lieblingsschauspieler“. Zu Hause stehen Platten von Deep Purple, AC/DC, Iron Maiden und Motörhead im Schrank. Einer seiner Schätze: die original Doppel-LP der britischen Rockband Led Zeppelin zum Konzertfilm The Song Remains the Same.

„Gekocht wird nicht, sonst müsste ich hinterher abwaschen.“ Waldemar Nesner

Nach zwei Stunden auf der A 84, der A 13 und der A 29, durch die Calvados-Metropole Caen und über den imposanten Pont de Normandie, biegt Nesner auf den Rastplatz Bolleville ein. Nach viereinhalb Stunden muss er laut Vorschrift 45 Minuten pausieren. Danach darf er nochmal so lange fahren, ehe nach insgesamt neun Stunden Schichtende ist. Nesner freut sich jetzt auf eine Dusche.

Anschließend verputzt er zwei Wurstbrote. Im gekühlten Ablagefach hat er alle Lebensmittel, die er für eine Woche braucht. Spartanisch, aber lecker: Bauernbratwurst, Zaziki, Pfälzer Leberwurst, saure Gurken. Manchmal kauft er frisches Baguette. Meistens aber reicht das Bauernbrot aus seinem Wohnort Bad Urach, knapp eine Autostunde von Stuttgart entfernt. „Gekocht wird nicht, sonst müsste ich hinterher abwaschen“, lacht Nesner.

Im kleinen Kühlfach liegt auch das Feierabendbier. Doch darauf muss er noch warten. Nach einer Dreiviertelstunde schert er wieder auf die Straße ein. Über die A 29 geht es Richtung Abbeville und anschließend nach Auchel. Endspurt. Die letzten Kunden bekommen ihre Ware. Pünktlich. In zehn Jahren resultierten größere Verspätungen nur aus einem zweitägigen Fahrverbot wegen eines Schneesturms sowie einer Straßenblockade französischer Bauern.

Nur noch wenige Kilometer bis zum Feierabend. Auf dem Rasthof bei Saint-Quentin sucht sich Nesner auf dem Parkplatz mit geschultem Auge eine Stelle aus, auf der sein Truck leicht schräg steht – damit das Kopfende der Koje etwas höher liegt. Für Fälle, in denen das nicht möglich ist, hat er einen zehn Zentimeter hohen Holzkeil dabei. 250 mal 70 Zentimeter misst die Sieben-Zonen-Kaltschaum- Matratze hinter dem Sitz. Hier kann Nesner entschleunigen. Gegen 18 Uhr ruft er seine Frau Monika an. Mindestens eine halbe Stunde telefonieren die beiden. Mit seinen mehrtägigen Touren durch Europa haben sie sich arrangiert. Im November feiern sie Silberhochzeit.

Entschleunigung: Die Freizeit nach Schichtende verbringt Nesner auf dem Parkplatz. ©Toby Binder

Entschleunigung: Die Freizeit nach Schichtende verbringt Nesner auf dem Parkplatz. ©Toby Binder

Langsam füllt sich der Parkplatz mit anderen Lastwagen.

Kontakt zu den Trucker-Kollegen ergibt sich selten. Die Wege kreuzen sich, doch hier ist der Weg nicht das Ziel. Früh zieht Nesner die Vorhänge zu, schaltet den Laptop an, legt eine DVD ein, schaut eine weitere Folge der Fernsehserie Vikings. Ablenkung. Denn die Tage auf der Straße ähneln einander. Gegen 22 Uhr geht im Truck das Licht aus. Bis zur Starthilfe bleiben sieben Stunden.

Höhere Nutzlast dank SMC

Die Farbe auf Waldemar Nesners Fahrerhaus hat die Tochter des Transportunternehmers Jörg Schäfauer ausgesucht. Das strahlende Mercedes-Gelb von Wörwag gehört zum Erscheinungsbild der Spedition aus Bietigheim-Bissingen. Die Karosserieteile aus Kunststoff sind nicht nur Blickfang, sondern vor allem leicht. Die Gewichtsersparnis kann der Spediteur der Nutzlast zuschlagen.

Möglich machen dies Verbundwerkstoffe wie SMC (Sheet Moulding Compound), das nur etwa ein Drittel so schwer ist wie Stahl. SMC besteht aus einem duroplastischen Reaktionsharz und Glasfasern. Seine Verwender beziehen es in Plattenform. Bei der Herstellung von SMC-Teilen kommt es zu Lufteinschlüssen, deren Ausgasen den Lack beschädigen kann. Um dies zu unterbinden, hat Wörwag eine spezielle Grundierung entwickelt, den Barriere- oder Sperrprimer W321. Er bildet eine feste Schicht, die das Ausgasen deutlich reduziert.

Wolfgang Fritz ©Frederik Laux

Wolfgang Fritz

arbeitet seit 1997 bei Wörwag. Als Leiter des Labors betreut der gelernte Lacklaborant die Lacke für Kunststoffanbauteile für Nutzfahrzeuge. „Auch bei Lastwagen ist Leichtbau gefragt. Abspecken senkt den Verbrauch und erhöht die Nutzlast. Dadurch können auch Fahrten eingespart werden.“

Text: Michael Thiem

Fotos: Toby Binder, Frederik Laux